Erzählt von Remo Stampfli

Vor 170 Jahren: Die erste „Gemeindepräsidentin“ der Schweiz 

Die kleine und längst verschwundene Aarberger Lokalzeitung namens „Seeländischer Anzeiger“ brachte sie als erste. Kurz darauf folgten wahrscheinlich das Bieler Tagblatt und die anderen zu dieser Zeit erscheinenden Zeitungen des Seelandes. Rasch verbreitete sich die Geschichte nach Bern und danach in der ganzen Schweiz weiter und wurde schliesslich sogar im angrenzenden Ausland bekannt: Die Sektionsgemeinde Baggwil hatte eine Frau zur „Gemeindepräsidentin“ gewählt! 

Über die Gründe, die dazu geführt haben, kann heute nur noch spekuliert werden. Wahrscheinlich ist, dass sich die stimmberechtigten Baggwiler untereinander zerstritten hatten und sich auf keinen Präsidenten einigen konnten. Die Ursache des Streites könnte möglicherweise in Zusammenhang mit dem Neubau des Schulhauses stehen, der zu dieser Zeit erstellt wurde. Denkbar ist aber auch ein anderer Grund – beispielsweise, dass kein (geeigneter) Kandidat zur Verfügung stand. 

Der Artikel aus dem Bund vom 01.02.1851

Fakt ist, dass am 2. Januar 1851 eine gewisse Witwe Hänzi – in den Artikeln zeitgenössisch „Henzi“ geschrieben – zur Präsidentin der Sektionsgemeinde Baggwil gewählt wurde. Und das – wie der Bund berichtete – „mit grossem Mehr“.1 Die Baggwiler hatten sich damit eine „kluge [und] verständige Frau“ – so wusste das Intelligenzblatt der Stadt Bern – zur Präsidentin gewählt.2 Es könnte sich dabei um Anna Hänzi-Nobs, die Witwe des 1847 49-jährig verstorbenen „Gerichtssässen“ und „Sittenrichters“ Niklaus Hänzi aus Baggwil handeln3 – sicher ist das aber nicht. Passen würde es aber: Denn ein Kandidat – und auch wenn dieser weiblich war – brauchte zu dieser Zeit eine gewisse Position um zur Präsidentin einer Teil-gemeinde gewählt zu werden. Die Gemeinde Seedorf bestand nämlich zu dieser Zeit und bis weit ins 20. Jahrhundert aus mehreren relativ eigenständigen Sektionsgemeinden, die u.a. das Weg- und das Schulwesen in den einzelnen Dörfern regelten.

Allerdings hatte die Sache einen Haken: Die Witwe Hänzi weigerte sich nämlich ihr Amt anzutreten. Sie tue „als
wisse sie nichts um ihre Präsidentschaft und [wolle] auf diese Weise die Gemeinde zu einer anderen Wahl nötigen.“4 Die Baggwiler dürften sich also recht schnell wieder geeinigt und einen Mann als Ersatz für die Witwe Hänzi gewählt haben. So erklärt sich auch, wieso diese Geschichte weder vom zentralen Gemeinderat in Seedorf noch vom Berner Regierungsrat zumindest aktenkundig behandelt worden ist: Die Sache hatte sich erledigt und ein Eingreifen oder eine Schlichtung von Seiten einer höhergestellten Behörde war nicht mehr nötig.5 Sie wurde vermutlich schnell ad acta gelegt und ging auch einigermassen rasch vergessen

Dass es sich bei dieser unüblichen Wahl um eine wenn nicht sensationelle so doch viele Leute interessierende Geschichte handelte, zeigt nun deren weitere publizistische Verbreitung. Wie erwähnt berichtete der Seeländer Anzeiger als erster davon. Am 30. Januar folgte das Intelligenzblatt der Stadt Bern und berichtete über die Vorkommnisse aus der „Gemeinde Baggwil“. Einen Tag später zog der Bund nach, fragte: „Scherz oder Ernst?“ und machte Baggwil zur „Einwohnergemeinde“. Weiter berichtete er, dass mit der Wahl der Witwe Hänzi „in der Frauen-Emanzipation bedeutende Fortschritte“ gemacht worden seien. Durch ihren Amtsverzicht wisse sie aber, „den Frauenruf besser zur würdigen als ihre Wähler.“6 Erwähnenswert ist, dass weder der Bund noch eine andere Zeitung, auf das fehlende Frauenstimmrecht hinwiesen oder danach fragten. Wortgleich berichtete darauf das Thuner Wochenblatt am 1. Februar und die Eidgenössische Zeitung aus Zürich einen Tag später „über die [der Witwe Hänzi] unerwartet zu Theil gewordenen Ehre.“7 Die Zürcherische Freitagszeitung brachte schliesslich am 7. Februar ebenfalls eine kleine Notiz der Baggwiler Vorkommnisse. Es ist anzunehmen, dass Anfang Februar 1851 weitere Zeitungen folgten. Damit war aus der kleinen lokalen Anekdoten eine schweiz-weit berichtenswerte Nachricht geworden. Nun publizierten die Gazette de Lausanne am 3. und das Journal de Genève am 4. Februar die französische Übersetzung dieses Artikels. Die Nachricht hatte den Röstigraben überwunden. Aber damit nicht genug: Die Baggwiler Wahl fand auch im Ausland Beachtung! Bereits am 2. Februar berichtete die Frankfurter Ober-Post-Amts-Zeitung von der „klugen Frau“, die „keine Notiz von ihrer Wahl] genommen“ habe.Wortgleich brachten Zeitungen aus München und Nürnberg am 8. Februar die Geschichte – jeweils als einzige oder eine der wenigen Mitteilungen aus der Schweiz.9 Der Münchner Volksbote für den Bürger und Landmann berichtete am gleichen Tag über das „Dorf Baggwil“, wo es „närrisch“ zugehe. Er gestand der Witwe Hänzi gar „mehr Verstand [zu] als [den] anderen Baggwiler[n] miteinander“, da sie nicht „Bürgermeistern“ werden wolle und urteilte: „Übrigens wär so eine Frau mitunter schon besser zum Bürgermeister, als so eine Schlafhaube oder so ein Wackelpeter, wie dergleichen an manchen Orten in dem Bürgermeisterrock stecken.“10

Der Artikel aus dem Münchner Volksboten vom 08.02.1851

Die Nachricht geriet immer mehr zur Schmunzelgeschichte: Abschliessend fragte sich nämlich die Wiener Zeitung „Der Humorist“, ob der neue Ehemann der Witwe Hänzi, wenn diese sich „nochmal verehelichen möchte“, automatisch zum neuen Gemeindepräsident der Baggwiler würde.11

Der Artikel aus dem österreichischen Der Humorist vom 10.02.1851

Schlussendlich blieb die Geschichte von der wahrscheinlich ersten Gemeindepräsidentin der Schweiz nichts weiter als eine kurze Anekdote, die es aber immerhin bis ins Ausland schaffte. 

 1 Der Bund, 31.01.1851 
2 Intelligenzblatt der Stadt Bern, 30.01.1851
Eintrag zu Niklaus Hänzi im Totenrodel der Kirchgemeinde Seedorf vom 29. Dezember 1847, StABE K Seedorf 18 Totenrodel, 1776-1852, S. 271
4 Der Bund, 31.01.1851
5 Gemeinderatsprotokoll Seedorf, Bd. 9, Gemeindearchiv Seedorf 590; Manuale/Protokolle des Regierungs-rates, Bde. 141-151, StABE A II 1275
6 Der Bund, 31.01.1851 
7 Thuner Wochenblatt, 01.02.1851; Eidgenössische Zeitung, 02.02.1851
8 Frankfurter Ober-Post-Amts-Zeitung, 02.02.1851 
9 Nürnberger Beobachter, 08.02.1851; Münchener Tagblatt, 08.02.1851 
10 Der Volksbote für den Bürger und Landmann, 08.02.1851
11 Der Humorist, 10.02.1851